Tag 9: Kulturelle Eindrücke aus Hanoi

Ein weiterer Tag in Hanoi. Leon schaffte es pünktlich aufzuwachen und fand Malte mal wieder im Wohnzimmer auf dem Sofa vor. Er hatte wieder Probleme beim Einschlafen gehabt. Da Leon sich sowas schon dachte, ließ er ihn bis zum letzten Augenblick um 8:35 Uhr noch schlafen, denn um 09:00 Uhr sollten wir die Führung haben. Uns gelang ein Turbostart in den Morgen, schwangen uns ein weiteres Mal auf das Moped in das Verkehrschaos und kamen auf die Minute pünktlich am vereinbarten Treffpunkt an.

Lynn bzw. Minh – die junge Frau, die uns die nächsten Stunden durch die Stadt begleiten sollte – kam ebenfalls pünktlich. Aufgewachsen in einem Dorf in der Nähe von Ha Noi, glänzte sie mit exzellentem Wissen über die traditionelle vietnamesische Sprach- und Esskultur, hatte aber dadurch, dass sie schon lange in Ha Noi lebte, auch ein paar interessante Orte abseits der typischen Touristenattraktionen Ha Nois in petto. Um die sollte es heute hauptsächlich gehen.

Zunächst sprachen wir aber über den traditionellen vietnamesischen Kaffee, der sich in den unterschiedlichen Regionen aus guten Gründen unterscheidet. Vietnam wird aufgeteilt in den Norden, die lange Mitte und den Süden, und logischerweise unterscheidet sich das Klima in den Regionen des Landes das sich über 1650 km entlang der Küste von Nord nach Süd erstreckt recht deutlich. Während das Klima im Norden im Vergleich zu den anderen Regionen gemäßigt ist und recht hohe Niederschläge aufweist, ist es in der langen Mitte Vietnams viel heißer und trockener. Im Süden wiederum ist es wärmer, die Niederschläge nehmen hier aber im Verhältnis wieder zu. Außerdem gibt es im Norden Vietnams vergleichsweise starke Jahreszeiten. Das hat Auswirkungen auf die traditionelle Esskultur. Traditionell wurden in den Regionen unterschiedliche Früchte angebaut, und auch die Bedürfnisse der Menschen, die mit den Verhältnissen leben mussten, unterschieden sich ebenfalls, wodurch sich das Essen in den Regionen unterscheidet. Auf das Thema des Klimas sind wir im Laufe der Führung noch häufig zurückgekommen.

Aber erstmal der Kaffee: Im Norden Vietnams gibt es als Spezialität den Egg Coffee (Cà Phê Trứng). Das “kühlere” Klima im Winter macht warme und sättigende Speisen und Getränke besonders beliebt. Jedoch ist die Kaffeezubereitung, abgesehen vom Cà Phê Trứng, sehr vielfältig, da die Jahreszeiten unterschiedliche Zubereitungsformen hervorgebracht haben. Die Kaffeezubereitung in Zentralvietnam ähnelt – wie auch das Klima – dem Nahen Osten. Hier kommt der Salzkaffee her, weil hier entlang der Küstenlinie besonders viel Fisch in Salz konserviert wird und sich dementsprechend der Geschmack angepasst hat. Im Süden hingegen gibt es kaum Jahreszeiten. Es herrscht tropisches Klima mit hohen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit. Hier wird der meiste Kaffee angebaut, da dieser unter diesen Bedingungen am besten gedeiht. Im Süden wird traditionell mehr Cà Phê Sữa Đá, also gesüßter Eiskaffee, getrunken, oft erweitert mit Kokosnussmilch/-sorbet für den größten Erfrischungseffekt.

Schon während des gesamten Gesprächs dachten Malte und Leon kaum an etwas anderes, als sich selbst eins dieser wunderbaren Getränke einzuverleiben, da wir das morgens noch nicht geschafft hatten. Am Ende konnten wir nicht anders, als uns in einem der ältesten Cafés Ha Nois niederzulassen (hier soll der Cà Phê Trứng wohl erfunden worden sein) und kurz einen Kaffee zu trinken. Minh (unsere Begleitung) bestellte sich auch einen, und so konnten wir beim Kaffee weiter über die kulturellen Besonderheiten Vietnams quatschen.

Endlich wach und aufnahmefähig ging es als Nächstes zur Pagode auf dem See im französischen Viertel. In dem See hausten bis vor wenigen Jahren die größten und ältesten bekannten Riesenschildkröten, die nun in dem Museum auf dem Gelände ausgestellt sind und für viele Vietnamesen als Zeichen für das lange Leben und Dauerhaftigkeit gelten. An der Pagode wurde uns zudem erklärt, welche Kulturen Vietnam im Laufe der Geschichte beeinflussten. Die Pagode nämlich hat Einflüsse Chinas in Form der Schriftzeichen, die am Eingang und überall in der Pagode zu sehen sind. Diese haben in Mandarin aber keine Bedeutung, da sie vietnamesische Worte beschreiben. So kann ein Chinese die Zeichen zwar lesen, die Sprache aber nicht verstehen. Vietnamesen wiederum können die Zeichen nicht mehr lesen, wissen aber, wenn sie ihnen vorgelesen werden, was sie bedeuten. Zudem steht die Pagode im französischen Viertel mit starken westlichen Einflüssen. Die Franzosen haben damals jedoch verstanden, dass es für sie mehr Kapital birgt, die Innenstadt Ha Nois zu erhalten, da durch sie die französische Bevölkerung etwas zu gucken hatte. Auf der anderen Seite profitierten auch die Vietnamesen, die sich dann im französischen Viertel betun konnten. So kommt es zu der Konstellation, dass Ha Noi von den Kolonialisten nicht vollständig überbaut wurde und die vietnamesische Kultur dadurch stärker sichtbar geblieben ist.

Dieses Beispiel zeigt etwas Grundsätzliches: Die vietnamesische Kultur hat zwar Einflüsse von unterschiedlichen Seiten erfahren, dabei aber nie ihre eigene Grundlage verloren.

Als Nächstes ging es um die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Frauen haben große Entscheidungsmacht und bestimmen über Haushaltsfinanzen und große Investitionen. Dies schlägt sich auch im Glauben nieder: Es wird viel an Muttergottheiten wie Mẫu Đạo geglaubt, die eine bedeutende Rolle einnehmen. Frauen sind oft verantwortlich für die Zukunftsplanung der Familie, einschließlich der Bildung der Kinder, des Hausbaus und der Pflege älterer Familienmitglieder. In Vietnam werden Frauen durch ihre Denkweise als Stabilitätsanker der Familie angesehen. Zudem haben Frauen in der Vergangenheit auch einen großen Teil zur Ernährung der Familie beigetragen und wurden so zu den Ernährerinnen. Sie stehen für Harmonie im Haushalt und übernehmen Aufgaben zur Vermittlung bei Konflikten. Aufgrund dieser Eigenschaften werden Läden in Vietnam meistens nach den Frauen der Familie benannt – mit dem Gedanken, dass ein Laden, der langfristig existieren soll, eher die Attribute der Frau als die des Mannes benötigt.

In der vietnamesischen Kultur sind Stabilität und Harmonie wichtige Werte. Dadurch hat die Frau traditionell einen hohen Stand.

Der Mann zählt als das öffentliche Gesicht der Familie. Er repräsentiert die Familie in sozialen oder politischen Angelegenheiten, tritt als Beschützer der Familie auf und trifft die kurzfristigen Entscheidungen, die das tägliche Leben betreffen. Damit ergänzt er die langfristige Planungsrolle der Frau.

An dem Bild von Sonne und Mond erklärte Ming uns die Rollen von Frauen und Männern in der vietnamesischen Gesellschaft. Im Taoismus steht der Mond symbolisch für Eigenschaften wie Ruhe, Passivität, Empfänglichkeit, Intuition und Beständigkeit. Diese Eigenschaften repräsentieren das Yin, das weibliche Prinzip in der taoistischen Philosophie. Yin wird als Gegenpol zum Yang, dem männlichen Prinzip, betrachtet, das durch die Sonne symbolisiert wird und Eigenschaften wie Aktivität, Energie und Durchsetzungskraft umfasst. Es ist ein Bild, das von einer sinnvollen Aufgabenteilung handelt, indem Menschen jene Aufgaben vollständig übernehmen, die ihnen aufgrund ihrer Stärken und Schwächen liegen und andere anderen überlassen, anstatt zu versuchen der Fairness halber allen Menschen sämtliche Aufgaben zu gleichen Teilen zu übertragen. Ein Ansatz der zeigt, dass die Denkweise dieser Gesellschaft stärker ausgerichtet ist auf das Funktionieren als Gemeinschaft und nicht als Individuum. Dieser Gedanke kann auch in anderen Situationen des täglichen Lebens immer wieder nachvollzogen werden.

An diesen Bild von Sonne und Mond lassen sich auch die Unterschiede zwischen Vietnam und China zeigen. China richtet sich stärker nach der Sonne. Der Mann übernimmt dort eine dominantere Rolle. Das ist auch ein Resultat des subtropischen bis gemäßigten Klimas in China. Durch die starken Jahreszeiten, und auch die Geologie waren Menschen in China, gerade im Norden, seltener sesshaft und häufiger durch Nomadentum geprägt. Das hat die Rolle des Mannes gestärkt, da somit die täglichen Entscheidungen eine größere Rolle spielten als langfristige Planung. In Vietnam hingegen ist es trotz Jahreszeiten an jedem Ort möglich, über das gesamte Jahr hinweg Landwirtschaft zu betreiben. Deswegen wurden die Menschen hier schneller sesshaft und machten sich mehr Gedanken über die Orte, an denen sie sich niederließen. Da das Meer zum angenehmen Klima beiträgt, hat sich die Bevölkerung dementsprechend an der Küste angesiedelt, wodurch Meeresfrüchte und grade Fischsoße ihren Einschlag in der vietnamesischen Esskultur gefunden haben. Umgeben von Bergen und Meer hatten es expandierende Mächte wie China schwer, Vietnam zu überrennen, und die Vietnamesen selbst hatten, geprägt durch ihre Kultur sesshaft zu sein und nicht ständig in neue Regionen aufbrechen zum müssen, kein großes Bedürfnis, selbst zu expandieren.

Während wir dieses Thema besprachen, liefen wir vorbei an älteren vietnamesischen Damen und Herren, die sich mit dem See im Hintergrund fotografieren ließen. Sie trugen traditionelle Kleider, deren Schnitt jedoch an die Kleider Frankreichs angepasst war. Ein weiteres Beispiel für die Integration anderer Kulturen in die eigene, ohne dabei die eigene Identität komplett zu verlieren.

Wir befanden uns auf dem Weg zum ältesten Buchladen Vietnams, der im Jahr 1974 eröffnet wurde. Abgesehen von der spannenden Architektur des Ladens konnten wir hier auch die durch die Umverteilung im Kommunismus entstandene Neuordnung der Häuser gut erkennen. In dem Haus, in dem sich nun auch der Buchladen befindet, lebte früher eine wohlhabende Familie. Nach der Umverteilung fanden dort zwanzig Familien Platz, von denen einige noch heute dort leben. Generell hat dies in der Innenstadt zu zahllosen kuriosen Bauten geführt, die vor allem durch die geringe Grundstücksfläche und deren maximale Bebauung – besonders auch in die Höhe – auffallen.

In der Bibliothek ging es dann auch um die Esskultur in Vietnam. Wir erfuhren, dass das Essen in Vietnam den Körper nicht nur nähren, sondern auch heilen soll. Viele Gerichte werden traditionell mit dieser Einstellung zubereitet. Es gibt hier eine ganze Philosophie, die auf eine gesunde Ernährung abzielt. So ist das Essen in Vietnam beispielsweise auf Slow Cooking und Slow Eating ausgelegt. Das Essen wird sehr heiß serviert, wodurch man abwarten muss, bis man es essen kann. Gleichzeitig wird mit Stäbchen gegessen, die nicht so viel Essen auf einmal “transportieren” können. Häufig wird das Essen in unterschiedlichen Soßen und Suppen gedippt, bevor man es verspeist, was ebenfalls zu einer Verlangsamung des Essvorgangs führt. Grade die Brühen werden Teilweise Stundenlang gekocht, damit die verwendeten Kräuter mit ihren besonderen Wirkungen besser von der Brühe aufgenommen werden können. Es gibt unzählige Facetten, die an dieser Stelle viel zu weit führen würden. Es zeigt aber, wie stark sich das traditionell vietnamesische Essen von europäisiertem vietnamesischem Fast Food unterscheidet.

Nach der Führung liefen wir noch ein Stück mit Minh zurück zum Startpunkt der Tour, bis Leon am Straßenrand frittierte Taschen entdeckte, die er bisher noch nicht probiert hatte. Frühstück hatte es noch keines gegeben, also verabschiedeten wir uns von Minh und setzten uns an die für unser Verständnis viel zu kleinen Tische.

Natürlich nicht ohne noch ein Selfie zu machen…

Erst wollten wir nur probieren und bestellten dann nach und nach immer mehr. Es handelte sich um Teigtaschen, gefüllt mit Glasnudeln, Ei, Hackfleisch und Morcheln.

Gestärkt wanderten wir zum Dong-Xuan-Markt – nicht ohne uns auf dem Weg noch frittierte Teigkugeln mit Sojafüllung zu gönnen.

Der Dong-Xuan-Markt ist ein riesiges Labyrinth, in dem vor allem Stoffe jeder Qualität und jedes Materials verkauft werden. Für uns war nichts dabei, deswegen waren wir recht schnell wieder draußen.

Völlig überladen von den Eindrücken des Tages und ein bisschen müde von der kurzen Nacht setzten wir uns kurz in ein Café und tranken – kaum zu glauben, aber wahr – keinen Kaffee, sondern Limo und Saft.

Wir fuhren dann recht schnell nach Hause, um uns auszuruhen. Malte schlief mal wieder eine Runde auf dem Sofa, und auch Leon hatte vor, sich hinzulegen, fand aber Ablenkung darin, herauszufinden, wie er den Blog in unterschiedlichen Sprachen gestalten könnte. Wir werden immer wieder danach gefragt, und es war ihm schon seit der Radtour vor zwei Jahren ein Anliegen. Natürlich stellte sich alles wieder als aufwändiger heraus, als gedacht. Den Blog könnt ihr jetzt also auch an eure Freunde weiterleiten, die die Artikel lieber auf Vietnamesisch oder Englisch lesen wollen!

Malte wachte irgendwann wieder auf, und wir machten uns sogleich auf den Weg, uns ein Abendessen zu besorgen. Heute sollte es zunächst Phô-Rollen geben, und weil das noch nicht genug war, besorgten wir uns auch noch Bánh Cuốn. Irgendwo am Straßenrand fanden wir Läden, die uns gerade so passten… no risk, no fun!

Bánh Cuốn

Natürlich konnten wir nicht zurück in die Wohnung, ohne uns bei unserem Lieblingssaftstand noch einen Saft zu holen.

Wir chillten uns mit dem Saft noch kurz aufs Sofa tranken unseren Saft, aßen eine Drachfrucht die wir von Chi Trang geschenkt bekommen hatten, spielten ein bisschen Schach und gingen dann recht pünktlich – so gegen halb zwei – ins Bett. Am nächsten Tag können wir ja ausschlafen. Zum Glück!

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